F. Falk: Eine gestische Geschichte der Grenze

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Titel
Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt


Autor(en)
Falk, Francesca
Erschienen
München 2011: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Armin Winiger

Die von Francesca Falk vorgelegte Studie ist eine Einladung zum Nachdenken über Grenzen: über ihre Entstehung, ihre Durchsetzung und ihre Veränderbarkeit. Die zentralen Begriffe, mit denen die Autorin operiert, lauten Evidenz, Transparenz und Kontingenz. Im Anschluss an die Einleitung werden diese bestimmt. Ihr instabiles Verhältnis schildert Falk folgendermassen: «Verliert Evidenz ihre angebliche Transparenz, wird Kontingenz sichtbar. Andererseits kann Transparenz im Sinne einer ‘perfekten Durchsichtigkeit’ auch zu Unsichtbarkeit führen.»

Der methodische Ansatz selbst ist dem Gegenstand entsprechend definiert als ein grenzgängerischer, und zwar «zwischen Geschichtswissenschaft, Bildanalyse und Politischer Theorie». Es geht der Autorin ausdrücklich nicht darum, traditionelle politische Ideengeschichte zu schreiben, sondern vielmehr «zur Bildlichkeit der politischen Theorie» vorzudringen, um das den Grenzen spezifische Verhältnis von Schein und Sein zu thematisieren. Globale Probleme würden an der Grenze sichtbar, beispielsweise am Strand von Lampedusa, sie seien aber nicht dort entstanden und zu lösen.

Wie der Titel anzeigt, handelt es sich um das anspruchsvolle Unterfangen, eine gestische Geschichte zu schreiben. «Gesten erhalten wir um so mehr», so der zitierte Walter Benjamin, «je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.» Das Fragment ist daher die bewusst gewählte Darstellungsform, denn: «Das onstellieren von genau ausgearbeiteten und unbearbeiteten Stellen erzeugt Kontraste.» Und eben dadurch vermag die gestische Geschichtsschreibung zu öffnen, ein anderes Sehen herzustellen, anstatt zu inventarisieren; ihr geht es um «Konstellationen, die sich gegenseitig kommentieren».

Indem Falk die einzelnen Buchabschnitte als (fragmentarische) Bilder vorstellt, wird die Aktualität des Themas zu einem ständigen Begleiter der historischen Erkundungen, die umgekehrt wiederum aus zeitgenössischen Konstellationen hervortreten. Dieses Wechselspiel bringt ein anderes Benjamin-Zitat zum Ausdruck: «Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.» Mit anderen Worten: Die Aktualität bildet ein konstitutives Element der hier zu besprechenden Untersuchungen.

Zunächst konfrontiert Falk die Selbstverständlichkeit, mit welcher arbeitswilligen Zuwanderern aufgrund ihrer Herkunft heute das Aufenthaltsrecht abgesprochen wird, mit den Bedingungen für eine (vermeintlich) gewaltfreie Gründung der Gesellschaft bei John Locke. Ans Licht kommt dabei insbesondere, dass der «Vater des Liberalismus» leeres Land für die Gründung neuer Siedlungen voraussetzen musste. Um dies zu bewerkstelligen, hat er die indianische Bevölkerung kurzerhand aus seinem Amerikabild wegretuschiert. Während Locke von der Geldökonomie einen territorialen Expansionsdrang herleitete, überging er die früher oder später unausweichliche Konsequenz einer Landverknappung mit Stillschweigen. Diesen unreflektierten Widerspruch erkennt Falk im fotografischen Werk von Carleton Watkins wieder, rund zweihundert Jahre später im Kontext des kalifornischen Goldrauschs: Watkins’ Inszenierung des «menschenleeren Amerika» steht hier unversöhnt neben einer Auftragsarbeit, die er für einen vor Gericht verhandelten Streit um Grundstücksgrenzen anfertigte.

Eine neue Konstellation gruppiert Falk um die beiden winzigen Pestärzte auf dem Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan von 1651. Zusammen mit den deutlicher erkennbaren Soldaten verweisen sie auf den im Hobbesschen Staat fortdauernden Naturzustand und unterlaufen dadurch die «bildliche Suggestion einer totalen Inklusion»: Sie stehen für Selektionen und Exklusionen. Während der englische Philosoph im Leviathan nicht auf diesen Aspekt zu sprechen kommt, so schweigt er im Unterschied zu Locke ansonsten doch keineswegs über die Gewalt am Grund der Souveränität, wie Falk differenzierend festhält. Mit Ausführungen über die Pestpolitik in der frühen Neuzeit und die Bevölkerungspolitik von William Petty, Hobbes’ zeitweiligem Assistenten, unterstreicht sie ihr Argument, dass auf dem Bild des Leviathan neben Souveränität und Disziplinarmacht bereits «eine beginnende Biopolitik sichtbar» werde.

Die Gewaltsamkeit der Grenzziehungen, wie sie bei Locke und Hobbes zutage gefördert wurde, begegnet uns in ebenso verschleierter Weise auf heutigen Pressefotos: So kursieren unzählige Bilder von Bootsflüchtlingen, die aufgrund unklarer Verantwortlichkeit gleichsam als Opfer einer natürlichen Notwendigkeit erscheinen, wohingegen die Insassen von Abschiebelagern unserem Blick systematisch entzogen werden. Nach einer sorgfältigen Analyse ausgewählter Bilder gelangt Falk über Exkurse zur Geschichte des Abschiebelagers und der Identifikationstechnologien schliesslich zu den Sans-Papiers, deren Status sie als paradigmatisch für die Aporien des liberalen Rechtsstaats diskutiert. Im Anschluss an zeitgenössische Debatten in der politischen Theorie stellt sie die stille Übereinkunft in Frage, dass sich die Staaten nur gegenüber ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern rechtfertigen müssen: Das Recht auf Auswanderung gelte es mit einem Recht auf Einwanderung zu komplettieren. Einen Anknüpfungspunkt findet sie dafür sogar bei Locke: «Erst dann ist es ein freier Mensch, der auch die freie Entscheidung darüber hat, welcher Regierung er sich unterstellen will und welchem politischen Körper er sich anschliessen möchte», heisst es in seinen Abhandlungen über die Regierung.

Es ist dem methodischen Zugang zu verdanken, dass unerwartete Verbindungen zwischen vermeintlich entfernten Themenfeldern plötzlich aufscheinen, ohne in einem fixen Erklärungsmuster zu erstarren. Die Autorin eröffnet dadurch nicht nur neue Perspektiven für die Forschung über Grenzen, sondern gibt gleichzeitig erfrischende Anregungen für den methodischen Umgang mit Bildquellen in der Geschichtswissenschaft ganz allgemein. Gegenüber einer linear entwickelnden Argumentation hat ihre fragmentarische Schreibweise den wertvollen Vorteil, Weglassungen nicht zu verbergen und keine abschliessende Vollständigkeit vorzugaukeln. Gerade die Lücken eröffnen neue Denkräume und sind Bestandteil einer bewussten Strategie, welche die Leserschaft ernst nimmt.

Das schmale Buch vermag jedoch auch zu zeigen, dass auf diesem Weg durchaus konkrete Beiträge zu aktuellen Forschungsfragen erbracht werden können. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht sicherlich Falks Korrektur an Horst Bredekamps Überbewertung der Bedeutung der Sichtbarkeit der Macht für Hobbes’ Staatstheorie. Ebenso liefert die Autorin weitere Argumente für eine neue Beurteilung des 17. Jahrhunderts in den laufenden Debatten um Michel Foucaults Konzept der Biopolitik.

Zitierweise:
Armin Winiger: Rezension zu: Francesca Falk: Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt. München, Wilhelm Fink, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 521-523

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 521-523

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